literatur.wettbewerb 2000

SIEB.10

e-zine für literatur


 

Um Haiku zu schreiben,
werde ein drei Fuß großes Kind.

Matsuo Basho

Was ist ein Haiku ?

Haiku sind japanische Kurzgedichte.

Meist ausgehend von einer Naturbetrachtung wollen sie anregen, über die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Seins nachzudenken.

Ein Haiku (oder "hokku" = Startvers einer Kette) will eine Stimmung auf kleinstem Raum mit minimalen Mitteln wiedergegeben.

Oft soll der Leser aus dem Kleinen heraus auf das ganze Universum und seinen eigenen Platz darin blicken können. Manchmal aber gibt ein Haiku auch bloß die augenblickliche Gemütslage der AutorInnen wieder.

Die Vorliebe für die Schilderung von Ereignissen in der Natur im Wechsel der Jahreszeiten ist in Japan sehr früh ausgeprägt. Im Jahr 905 wird die zweite große Gedichtsammlung - Kokinshu (Sammlung alter und neuer Gedichte) - zusammengestellt. Die ersten sechs von 20 Bänden bestehen aus Jahreszeitengedichten. In späteren Sammlungen wird dieses Prinzip beibehalten, wobei die Jahreszeitengedichte einen immer größeren Raum einnehmen.

Die Vorläufer: Tanka und Renga

Haiku sind immer Dreizeiler mit der Silbenfolge 5-7-5, entstanden aus der ersten "Oberstrophe" der Tanka.

Aber auch in der japanischen Sprache mit den kurzen vokalreichen Silben und der freien Wortstellung finden sich Anklänge an das 5- und 7-silbenmuster.

Schon in der ersten großen japanischen Gedichtsammlung aus dem 8.Jahrhundert, genannt Manyoshu (Sammlung der zehntausend Blätter), haben die Gedichte Zeilenlängen von fünf und sieben Silben. Die vorherrschende Form ist das Tanka mit dem Rhythmus 5-7-5-7-7.

Die Beliebtheit des Haiku hängt auch mit der Kürze zusammen, denn einen klar strukturierten Dreizeiler mit 17 Silben (etwa das Mass eines Atemzuges) und einem festen Silbenmuster können auch leicht erlernt und behalten werden.

 Tanka sind wesentlich älter als die Haiku und basieren vermutlich auf mündlich tradiertem Liedgut und der  chinesischen oder auch der koreanischen Dichtung.

Die Tanka-Dichtkunst wurde vor allem vom höfischen Adel gepflegt.  Am Kaiserhof wurden regelmäßig Tanka-Wettkämpfe ausgetragen. Diese Kettengedichte nannte man Renga: der erste Spieler gibt eine Strophe mit dem Silben-Rhythmus 5-7-5 vor, der zweite antwortet mit einer 7-7-Folge, der nächste setzt wieder mit einem 5-7-5 fort.

Im Renga soll der vorangegangene Gedanke vergessen und der nachfolgende nicht antizipiert, sondern lediglich der Strophe, die man vor Augen hat, eine weitere angefügt werden. Die Zeit im Kettengedicht ist ein fortdauerndes Jetzt ohne Anfang und Ende, die Welt des Renga kennt kein Ganzes, sondern nur eine Ansammlung isolierter Momente.

Das Geheimnis des Haiku

Der Haiku-Dichter begnügt sich damit, das Ereignis dem Leser unmittelbar hinzustellen, Kommentierungen oder kunstvolle Wortschöpfungen sind nicht gefragt.

Die Haiku-Kunst besteht darin, das beschriebene Bild im Leser aufflammen zu lassen; der Leser soll es für sich selbst vervollständigen können und dadurch zurückfinden zum inneren Anlaß des Haiku.

Denn Haiku sind festgehaltene Augenblicke, der Leser soll die Möglichkeit haben nachzufühlen, was unausgesprochen, vielleicht sogar unaussprechbar, bei einem Haiku mittransportiert wird.

Inhaltlich sollte sich in der ersten Zeile ein Naturbild entwickeln, welches in der zweite Zeile einem Höhepunkt zustrebt, um dann meist in Form eines Satzzeichens eine Zäsur zu erfahren. Der Leser soll an diesem Punkt ein wenig verweilen, um sich seine eigenen Gedanken über einen Schluß zu machen, ehe die Lösung des Autors in den Blick kommt. Die letzte Zeile sollte den Weg von einem einfachen Bild aus der ersten Zeile zum Allgemeinen und Universellen ermöglichen.

Wenn man sich mit der japanischen Kunst befasst, dann sieht man, wie ein unbestreitbar weiser und philosophischer und kluger Mann seine Zeit womit verbringt? Die Entfernung des Mondes von der Erde zu studieren? Nein. Die Politik Bismarcks zu studieren? Nein. Er studiert einen einzigen Grashalm.

Vincent van Gogh

Zur Geschichte des Haiku

Ein Haiku ist geschlossen und offen zugleich: Geschlossen in dem Bild, das dem Leser beschrieben wird und offen in dem, was der Leser damit verbindet.

Die Haikuzeitrechnung beginnt mit Matsuo Basho (1644-1694), der mit seinen Haiku die klassischen Standards setzte. Zu weiteren bedeutenden Haiku-Dichtern nach Basho zählen Buson (1716-1783), Issa (1763-1827) und Shiki (1867-1902).

Tatsächlich ist es erst Masaoka Shiki, der Ende des 19.Jahrhunderts den Namen Haiku einführt. Unter diesem Namen verbreitet sich das größte aller kleinen Gedichte während des 20.Jahrhunderts in der ganzen Welt, wobei es besonders in Nordamerika auf große Resonanz stößt.

Legendär ist der erste Haiku-Wettbewerb, den Japan Air Lines 1964 in den USA veranstaltet: Über 41.000 Beiträge werden eingesandt.

 

Die weltweite Verbreitung des Haiku führt immer wieder zu Diskussionen über die Haiku-Regeln. Dabei stehen sich zwei Haltungen gegenüber:

  • Das Festhalten an den klassischen japanischen Standards und
  • die Anpassung an die jeweilige Sprache und Lebenswelt der Haiku-Dichter.

Haiku in anderen Sprachen lassen sich selten in dieses Schema pressen, es bleiben Rhythmus und die Begrenzung auf drei Zeilen.
Die japanische Sprache begünstigt die genannten formalen Bedingungen. Japanisch ist eine Sprache, die in Silben organisiert ist. In den japanischen Schriften Hiragana und Katakana beschreibt ein Zeichen immer eine Silbe und keinen Einzellaut wie im Deutschen. Jede Silbe besteht aus einem Konsonanten mit folgendem Vokal. Die Gesamtzahl der Silben ist stark beschränkt (weniger als 100), es gibt nur wenige silbenfreie Laute (Vokale und "n"). Durch die begrenzte Silbenzahl ergeben sich bei kürzeren Worten viele Mehrdeutigkeiten, d.h. ein einziges Wort hat meist viele Bedeutungen, die im jeweiligen Kontext zu ergründen sind.

... eigentlich die einzige WAP-Kompatible literarische Kunstform ...

Oliver Gassner

Haiku in anderen Sprachen

Für um Authenzität bemühte Übersetzer sind japanische Haiku oft harte Nüsse, weil sich Feinheiten und Vieldeutigkeiten nicht einfach in eine neue Sprache mitnehmen lassen. Bildlich gesprochen muß man die Idee eines Haiku in sich entstehen lassen und mit Wörtern der Zielsprache neu beschreiben, um dem Original nahe zu kommen.
Gute Haiku sind nicht auf das Verständnis der japanischen Sprache oder strenge formale Regeln angewiesen. Ihre Wirkung entfalten sie durch das Wesen des Inhalts - unabhängig von der Sprache, die dafür benutzt wird.

Ein Haiku läßt sich schwer beschreiben. Seine drei Zeilen verhindern ganz von selbst, große und lange Worte darüber zu verfassen. In seiner konkreten Knappheit macht es aufgeblasene Erklärungen lächerlich. Das Haiku führt den Leser über die ersten beiden Zeilen so weit, daß er bereit für die letzte ist - die ihn blitzartig in in die Wirklichkeit führt. Es zwingt den Leser, an der Schöpfung des Werks teilzunehmen. Damit erreicht es eine Tiefe, die mit Worten nicht zu erzielen ist.

Ein Haiku drängt nicht nach Größe und Erhabenheit, ist frei von Ehrgeiz oder pädagogischen Zielen, gleich welcher Art. Es drängt sich dem Leser nicht auf, versetzt ihn trotzdem unmittelbar in ein Geschehen, einen Gedanken. Es wirkt nicht auf den Menschen ein, es wirkt im und durch den Menschen selbst als Ereignis.

Schlechte Haiku sind schlicht belanglos, gute Haiku brauchen bei aller Kürze nicht als solche erklärt zu werden. Sie wirken von selbst, wenn man sie wirken läßt.

 


Quellen:
http://mypage.bluewin.ch/firststeps/haiku/haikuallg.html
http://mypage.bluewin.ch/firststeps/tanka/tankaallg.html
http://mypage.bluewin.ch/firststeps/haiku/Die4/derFrosch.html
http://homepages.sgh-net.de/~argentix/schreibe/haiku.html
http://www.etwaskraus.de/haiku/haikschr.htm
http://www.etwaskraus.de/haiku/haistory.htm
http://www.faximum.com/aha.d/keirule.htm

http://www.haiku-plus.de/haiku.html

 
Hintergrundbilder unter Verwendung von:
http://www.ugoers.de/Haiku/images/furu-ike-ya-k.jpg
http://mypage.bluewin.ch/firststeps/tanka/Fuji1Col.jpg

 


SIEB.10 @ 4711 

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